Buchkritik „Hinterwald“ von Lissbeth Lutter

Der Krimi „Hinterwald“ von Lissbeth Lutter spielt 2002 und 2003 im bayrischen Oberland in der fiktiven Stadt Hinterwald. Diese Städtchen ist ein Alpenidyll und deswegen auch ein Tourismusort. Doch der Schein der Idylle trügt. Hinterwald ist Standort ein Kaserne der Gebirgsjäger, die vor 1945 von hier auch aufbrachen, um an den NS-Vernichtungs- und Eroberungsfeldzügen teilzunehmen. Viele der Veteranen dieser Feldzüge leben auch 2002 noch in Hinterwald:
„Sie hatten mitgemacht bei Deportationen, Erschießungen, blutigen Racheaktionen, sie hatten sie zum Teil sogar befohlen. Doch statt in einer angemessenen Neun-Quadratmeter-Zelle zu sitzen, verbrachten sie in ihren Lebensabend hochbetagt, geehrt und in Frieden in ihren balkonbewehrten, geraniengeschmückten und mit Lüftlmalerei verzierten Alpenfestungen. Diesen ruhigen Lebensabend wollten sie ihnen gründlich verderben.“ (Seite 57)
Doch die Altersruhe der NS-Kriegsverbrecher wird gestört als 2002 linke Aktivist*innen aus Dortmund einen Veteranen-Stammtisch stören.
Die Situation eskaliert und wird von einer Provinzjournalistin des Hintenwalder Tagblatts beobachtet, die im Buch die Hauptprotagonistin ist. 
Neben solchen Störaktionen versuchen die linken Aktivist*innen auch konkrete Kriegsverbrechen und daran Beteiligte zu recherchieren. Bei einer solchen Recherche wird im Archiv der Gebirgsjäger in München der Aktivist Lukas Roehm ermordet. Später folgt ein weiterer Mord und ein Mordanschlag mit einem Wehrmachts-Gewehr.
Die Geschichte spielt in den Jahren 2002 und 2003. Neben der Journalistin spielt Katharina Mertens aus Dortmund, genannt Karina, die zweiten Hauptrolle. Sie ist eine erfahrene Politakteurin aus der autonomen Szene. Mit ihren Freund*innen recherchiert sie die Blutspur der Gebirgsjäger in Griechenland, Italien usw. und klagt sie an.
In kurzen Rückblenden wird auch ein solches Massaker in dem griechischen Dorf Nea Churio aus der Sicht eines Opfers mitsamt den Folgen geschildert.
Der Hinterwalder Bürgermeister, Rudolf Leisinger, versucht dagegen solche Skandale zu verhindern und das Andenken an seinen Vater, den Gebirgsjäger-Oberst Joseph Leisinger, zu retten.
Der Kriminalhauptkommissar im Bereich Staatsschutz  Max Forster jagt die Autonomen aus NRW, die er als seine Feinde betrachtet. 
Die Journalistin steht lange zwischen allen Parteien, sie schwankt zwischen dem jungen Gebirgsjäger-Soldaten Korbinian und ihrer neuen Bekanntschaft Karina.
Die Stimmung vor Ort spitzt sich zu mit dem zweiten Mord und dem Anschlag auf ein Bronzemaultier, ein Denkmal der Gebirgstruppen für ihre Lastentiere, dem der Kopf abgesägt wird.
Dann mieten die Dortmunder Aktivist*innen auch noch eine Plakatwand  an, um den Vater des Bürgermeisters als möglichen Kriegsverbrecher anzuprangern.
Zu Pfingsten 2003 findet erstmals eine große Demonstration gegen das Gebirgsjäger-Gedenken statt und es kommt zum Showdown auf dem Berg als sich alle versammelt haben:
„Oben angekommen, setzte ich mich ins Gras und betrachtete die Szenerie. Wie aus einem Bayernbilderbuch des Fremdenverkehrsamtes. Blauer Himmel, ein paar weiße Wolken, in der Sonne glänzende Felswände, dunkelgrüner Bergwald und hellgrüne Wiesen darauf ein paar Frauen und Hunderte herausgeputzter Mannsbilder mit allem was dazu gehörte: Festtagsuniformen, Lederhosen, Janker, Haferlschuhe, Hüte, Federn, Gamsbärte. 
Eine Überdosis Heimat, Tradition und Brauchtum. 
Der Brechreiz meldete sich zurück.“ (Seite 447)

Das fiktive Hinterwald im Oberland ist natürlich das reale Mittenwald und gleichzeitig eine Anspielung auf den Begriff 'Hinterwäldler'. Tatsächlich gab es eine jahrelange Kampagne in Mittenwald, um auf die Verstrickungen in NS-Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen.
Es sind also mutmaßlich auch biografische Erfahrungen der Autorin Lissbeth Lutter in den Text mit eingeflossen.
Der „AK Angreifbare Traditionspflege“, im Buch „AK Tradition angreifen“, organisierte damals Protest vor Ort und recherchierte die Kriegsverbrechen. Den „Kameradenkreis der Gebirgsjägertruppe“ nannte der AK zu Recht „Kriegsverbrecherselbsthilfeverein“. 
Im Buch werden auch die damaligen apologetischen und geschichtsrevisionistischen Diskurse gut nachgebildet. Etwa, wenn bei einer Gedenkveranstaltung im Buch offiziell die Rede von „Frieden und Völkerverständigung“ ist.
Ebenso gut wird im Buch der Alltagssexismus mit dem Karina und die Journalistin beständig konfrontiert werden, dargestellt.

Der Krimi hat, was die Mördersuche angeht, keine wirklichen Überraschungen zu bieten. Am Anfang des Buches waren die Figuren auch noch etwas sehr holzschnittartig, sie gewinnen aber im Buchverlauf an Kontur. Stellenweise hat das Buch auch seine Längen.
Doch das setting ist authentisch und die Geschichte gut recherchiert. Nett ist auch das mal zwei junge Nicht-Polizistinnen die guten Hauptrollen spielen und nicht schon wieder ein alternder Kommissar. Die Polizei wird ebenso wie die Bevölkerung ziemlich negativ dargestellt, was sicher den realen Erfahrungen entspricht.
Auf Grund des Themas und weil es trotz der Längen ein guter Krimi ist, sind dem Buch zahlreiche Leser*innen zu wünschen. 

Hier gibt es einen ersten Geschmack:
www.hinterwald.info
www.hinterwalder-tagblatt.de


Lissbeth Lutter: Hinterwald, Bremen/Wuppertal 2019.


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