Buchkritik „Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer

Der Romanerstling „Das Genie“ des Autors Klaus Cäsar Zehrer ist ein gelungenes Porträt zweier eigenwilliger Personen der Zeitgeschichte. Konkret geht es um Boris Sidis und seinen Sohn William James, genannt ‚Billy‘. Boris Sidis wandert 1886 aus der Ukraine in die USA ein. Dort lernt er die ebenfalls jüdisch-ukrainische Auswanderin Sarah kennen, die er durch private Bildung von der einfachen Arbeiterin zur Ärztin emporhebt. Wichtig ist aber dabei der Fleiß von Sarah als Triebfeder. Beide bekommen einen Sohn und Sidis senior beschließt ihn nach seiner Spezialmethode zu erziehen. Boris Sicht auf die Welt ist eine sehr rationale. Dieser Sicht auf die Welt als Ort reiner Logik entspringt seine Erziehungsmethode. Sie beinhaltet eine Fantasieverkürzung und einen erzwungenen Kindheitsverzicht. Das Kind wächst nicht auf, es wird gezielt zugerichtet. Es hat etwas von der Embryonenerziehung in Huxleys „Schöne neue Welt“. So wird zwar aus dem 1898 geborenen Sohn William James Sidis, genannt „Billy“, ein junges Genie, aber gleichzeitig auch ein sehr lebensfremder Mensch, der mit Dingen außerhalb der Logik, wie etwa Gefühlen, nur schwer bzw. gar nicht umzugehen weiß. Sidi senior ist dabei trotzdem sehr zukunftsorientiert und lehnt das Schwelgen in der Vergangenheit ab:
„Sie klammern sich an ihre erbärmliche Vergangenheit wie Schiffbrüchige an die Planken ihres untergegangenen Schiffs. Dabei wird alles Negative einfach totgeschwiegen, und übrig bleibt ein klebrigsüßes Bonbon Namens Nostalgie.“
(Seite 95) Sidi senior und junior verstehen also viele Aspekte des Menschseins nicht. Menschen sind aus ihrer Perspektive „Sklaven ihres Selbsterhaltes“. So wirkt der Sohn nicht nur altklug und ist ein Klugscheißerkind, sondern er wirkt auch sehr weltfremd. In der Schule überspringt er mehrere Klassen und wird nicht nur durch seine Intelligenz, sondern auch durch den Altersunterschied von ein Fremdkörper. Die durch seine Erziehung bedingte Lebensfremd führt dazu dass er einfach sagt, was er denkt und Kunst und Liebe als sinn- und zwecklos ablehnt. Sein bereits in jungen Jahren gehaltener Vortrag „Geometrie in der Vierten Dimension“ im Mathe-Club zementiert seinen Ruf als Genie. Doch statt zum erwachsenen Weltstar zu werden, eckt Sidis Junior mit seinen kompromisslos vertretenen Grundsätzen überall an. Er schließt sich zeitweise den Sozialisten an und wird im Verlauf seines Lebens immer mehr zum Sonderling:
„Sein bizarrer Blick auf die Welt , seine spektakuläre Verkrampftheit, seine urkomische Humorlosigkeit, seine rührende Unbeholfenheit in alltagspraktischen Dingen, seine Ahnungslosigkeit von den gewöhnlichsten und seine Begeisterung für die abwegigsten Themen […].
“ (Seite 325-26) Sidis verliebt sich spät und unglücklich und wird zur traurigen und einsamen Gestalt. Sein Vater dagegen wird zum Intimfeind Freuds, dessen Psychoanalyse seine Sidis-Hypnosetherapie verdrängt. Ganz offensichtlich hat sich der Autor bei der Beschreibung von Sidis Senior und Sidis Junior am Asperger-Symptom orientiert. Darauf deuten Sätze wie der Folgende hin: „Er mochte Veränderungen nicht, sie beunruhigten ihn. Warum konnte man die Dinge nicht einfach lassen, wo sie waren, und stattdessen die Verhältnisse ändern?“ (Seite 357) Boris Sidis gab es wirklich (LINK: https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Sidis). Er lebte von 1867 bis 1923 und sein Sohn William James Sidis wurde als exzentrisches Genie bekannt. Zehrer hat mit ihren Porträts einen klugen Roman verfasst, der starken Tragödien-Charakter hat. Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall. Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie, Zürich 2017.

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