Buchkritik „Herbstmilch“ von Anna Wimschneider

 

 

Ein Kommentar wie „Sie hatte es nicht einfach in ihrem Leben“ wäre für das Leben von Anna Wimschneider eine starke Verharmlosung. In der 1984 erschienenen Autobiografie „Herbstmilch – Lebenserinnerungen einer Bäuerin“ berichtet die Bäuerin Anna Wimschneider (1919-1993) über ihr hartes Leben auf einem Bauernhof bei Neuhofen in Niederbayern.

Wimschneiders Mutter stirbt 1927 im Wochenbett. Da ist Anna Wimschneider gerade einmal acht Jahre alt. Als ältestes Mädchen und viertes von acht Kindern muss sie fortan die Mutter ersetzen.

Sie muss fünf Uhr morgens aufstehen, im Stall helfen und erst dann darf sie zur Schule gehen. Dazu heißt es noch Hausarbeit sei „Dirndlarbeit“ und sie muss als Frau kochen, nähen und waschen, während die anderen schon zu Bett gegangen sind.

So näht sie als Minderjährige bis zehn Uhr Abends, während die Anderen schon zu Bett gegangen sind. Ihre Brüder bringen später ihre Schmutzwäsche auch nach ihrem Auszug nach Hause zu ihrer Schwester zum Waschen.

Zusätzlich muss sie noch den bettlägrigen Großvater pflegen.

In der Anfangszeit kochte sie falsch und wird dafür von ihrem Vater mit Ohrfeigen („Watschn“) bestraft. Er ist nicht der einzige Erwachsene, der Kinder misshandelt:

„Der Pfarrer war ein hartherziger Mann, der auch die anderen Kinder oft mit schweren Holzscheiten schlug, die zum Heizen des Ofens in der Schule lagen.“ (Seite 57) 

Dazu herrschen auch noch Hunger und Kälte: 

„Im Winter mußten viele mit Holzschuhen in den Wald gesehen. Freilich hatte man die Socken am Boden mit Manchesterflecken besetzt, aber an der Hose hingen Eiszapfen und an den Fersen auch.“ (Seite 60)

Ohne Mutter kommt sie in die Pubertät und muss mit ihrer Regelblutung umgehen.

Sie ist sexualisierten Übergriffen mehrerer Männer ausgesetzt.

 

Im Jahr 1939 heiratete sie dann Albert Wimschneider, der aber elf Tage später zum Militär eingezogen wird. Wieder ist sie fast alleine für die Hausarbeit zuständig, zu der sich noch die Feldarbeit gesellt. Manchmal steht sie zwei Uhr nachts dafür auf!

Dazu versorgte sie zeitweise zwei pflegebedürftige Onkel, eine Tante und die Schwiegermutter, die sie drangsaliert.

Doch irgendwann jagt ihr Mann seine eigene Mutter davon und sie bekommt mit ihrem Mann insgesamt drei Töchter. Alle drei Töchter werden nicht Bäuerinnen, was ihre Mutter sehr begrüßt. Sie selber wäre auch gerne etwas anderes geworden:

„Ich wäre so gerne Krankenschwester geworden. Als ich früher meinen Vater fragte, ob ich das werden dürfte, wurde er so zornig, daß er mich schlug.“ (Seite 150)  

 

Im stark katholisch geprägten ländlichen Niederbayern sind laut Wimschneiders Erinnerungen die Sympathien für die Nationalsozialismus eher gering, dafür ist aber ein starker Antikommunismus weit verbreitet, der anschlussfähig an den Nationalsozialismus ist.

„Bei uns gab es nur wenige Hitler-Anhänger, denn die Bauern hielten nicht viel von ihm. Erst nach dem Reichstagsbrand, da waren viele froh, daß er uns vor den Kommunisten gerettet hat. Zu sagen, du bist ein Kommunist, war eine der schwersten Beleidigungen und ist es heute noch.“ (Seite 102) 

Nach und nach verbreitet sich so auch hier der Nationalsozialismus:

„In allen Häusern hing nun schon ein Hitlerbild, dafür haben manche das Kreuz im Herrgottswinkel weggetan, bei uns nicht. [...] Bei uns wurde und wird immer ein gemeinsames Tischgebet gesprochen, und dazu brauchten wir kein Führerbild.“

(Seite 104) 

Lediglich am Rande erwähnt Wimschneider den Einsatz von polnischen Zwangsarbeitern auf ihrem Hof:

„Mein Mann kam, als er genesen war, nach Italien. Der Wirtschaftshelfer mußte jetzt auch einrücken. Nun kam ein polnisches Ehepaar auf den Hof.“ (Seite 129)

Das ist schade, weil sie hier das Leid anderer an dieser Stelle ignoriert. 

 

Die Autobiografie „Herbstmilch“ von Anna Wimschneider ist erschütternd Zu der krassen Landarmut gesellen sich extrem patriarchale Verhältnisse und Sexismus. Man erfährt viel über das Schicksal einer kaum beachteten Gesellschaftsschicht und Frauen. Das ist kaum ein dreiviertel Jahrhundert her, wirkt aber manchmal so entfernt wie auf einem anderen Planeten. 

 

 

Anna Wimschneider: Herbstmilch, München, 6. Auflage 2019.

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