Buchkritik „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulze


Das Buch „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulz ist, entgegen der, aus seinem Titel abgeleiteten Vermutungen, kein Krimi. Es geschieht zwar ein Doppel-Selbstmord oder Doppel-Mord im letzten Drittel, aber den größten Teil des Buches geht es gar nicht um diese Tat.
Der Roman von Schulz besteht aus drei Teilen von unterschiedlicher Größe. Er ist in Dresden-Blasewitz und der nahe gelegenen Sächsischen Schweiz angesiedelt.

Im ersten Teil des Buches, der mehr im Umfang als die Hälfte ein nimmt, geht es um Norbert Paulini, Jahrgang 1955, einen ausgemachten Büchernarren. Es geht ihm nicht ums Schreiben, sondern um das Lesen. So macht er seine Passion zum Beruf und wird Buchhändler in der damaligen DDR. Er eröffnet 1977 ein Antiquariat. In seinem Sortiment führt er in der DDR seltene Werke. Das macht seinen versteckten Buchladen in Dresden-Blasewitz zum Anlaufpunkt für Personen, die Lektüre jenseits der DDR-Massenware suchen. Aus dieser Bildungsbürgertum-Kundschaft wird irgendwann eine Art regelmäßiger Salon, dessen Einladungen in bestimmten Kreisen sehr begehrt sind. Eine der typischen Nischen in der DDR entsteht:
„Sein Antiquariat galt mir als exterritorial, als eine Insel der Seligen.“ 
(Seite 207)
Allerdings eine überwachte Nische, denn bei solchen Treffen ist die Stasi natürlich nicht fern, wie Paulini aber erst nach der Wende erfährt.
Bis dahin führt er ein erfüllendes Leben mit seiner Frau Viola und seinem Sohn Julian. Nicht nur wegen dieser Enthüllung schlägt die Wende ein in sein Leben. Nein, der weltfremde Dissident wird ein Opfer der neuen kapitalistischen Verhältnisse. Seine Kundschaft bricht weg  und das Haus in dem er wohnt und arbeitet wird an einen Alteigentümer rückerstattet.
Der Buchladen fällt also der Wende zum Opfer, die Paulini anfangs einfach zu ignorieren versuchte.
„In den ersten Tagen hatte er noch ein Buch in die Hand genommen und sich eingeredet, morgen, ja morgen werde es anders sein. Seine Augen klammerten sich an den Zeilen fest, aber er hielt sich nie länger als ein paar Minuten, dann stürzte er ab wie ein Bergsteiger, dessen Finger und Zehen vergeblich einen Vorsprung in der glatten Wand gesucht hatten. Als habe das, was er las, nichts mehr mit ihm zu tun, jedenfalls nichts mit dem Leben, in das er eingesperrt war.“   
(Seite 158)
Er trennt sich auch von seiner Frau. Es folgt eine Zwischenperiode als Kassierer im Netto-Supermarkt und eine kurze Affäre mit einer Slowakin.
Schließlich zieht er sich in ein Dorf in der Sächsischen Schweiz zurück und 2002 raubt ihm die Elb-Hochwasser auch das Bücher-Notlager in einer Scheune.
Paulini verfällt dem Nationalismus, während sein Sohn sich offenbar der lokalen rechten Szene anschließt. Sein Sohn wird von der Polizei sogar verdächtigt an rassistischen Übergriffen beteiligt gewesen zu sein.

Der zweite, um einiges kleinere Teil ist aus der Sicht des Schriftstellers Schultze, einem Roman-Alter Ego des Autors, geschrieben. Dieser gelangt mit der Wende zu Ruhm und Ansehen. Er bandelt mit einer guten Freundin von Paulini an, die sich aber letztendlich für den ehemaligen Antiquar entscheidet.

Der letzte und kleinste Teil ist der Bericht einer Lektorin von Schultze, die diesem hinterher recherchiert und dabei auch auf die Spuren von Paulini stößt.

Das Buch ist routiniert geschrieben und die Beschreibung der bildungsbürgerlichen DDR-Nischenkultur sowie der Aufbruch in die kapitalistische Überfluss-Kultur in der ersten Hälfte sind vermutlich ziemlich authentisch beschrieben worden. Leider wirken die beiden kleineren Buch-Teile irgendwie unmotiviert und ergänzen den ersten Teil nur ungenügend. Die seltsame ungleichmäßige Drei-Teilung des Romans lässt das Buch somit etwas unfertig wirken.
Auch werden die Motive für Paulinis persönlichen Rechtsruck der Leserin oder dem Leser nicht erkennbar. 
Sein Rechtsruck des Protagonisten wird zwar beschrieben und hat in der Realität sicherlich einige Vorbilder wie den Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp oder die Buchhändlerin Ulrike Dagen im zu Blasewitz benachbarten Dresdner Stadtteil Loschwitz. Allerdings wird nicht ganz klar, warum es dazu kommt. Der Buchhändler hatte zwar schon in der DDR nur deutsche AutorInnen gelesen und erlebte in Folge der Wende eine soziale Deklassierung, trotzdem ist dieser Weg nicht zwingend vorbestimmt.

Trotzdem liest das neue Buch von Schulze sich nicht schlecht, ist aber sicherlich nicht sein bestes Buch.
Der Dresdner Lokalkolorit macht das Buch für Dresden-Kundige noch einmal lesenswerter.


Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder, Frankfurt 2020. 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Reportageband „Frauen dieser Welt“ von Peter Menzel und Faith d'Aluisio

Buchkritik „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel

Buchkritik „Hinterwald“ von Lissbeth Lutter