Buchkritik „Unerhörte Stimmen“ von Elif Shafak
Mit
„Unerhörte Stimmen“ hat die Schriftstellerin Elif Shafak ein
Buch über das andere Istanbul vorgelegt. Es geht um Menschen, die am
Rand der Gesellschaft oder sogar jenseits davon stehen.
Hauptperson
ist eine Tote, nämlich „Tequila Leila“, deren Leben im Rückblick
von 1949 bis 1990 im
ersten Teil des Buches erzählt wird.
Sie
wächst als Tochter einer Zweitfrau in der Stadt Van unter einem
ultrakonservativen-frömmelnden
Vater auf. Sie flieht nach dem Tod
ihres behinderten Bruders vor den engen Verhältnissen Zuhause
nach
Istanbul und wird Sexarbeiterin. Erst durch den konkreten Zwang,
später durch den Zwang der
Verhältnisse. Das Buch erzählt also
auch das Leben einer Hure. Gleichzeitig spielt sich alles vor der
Kulisse der türkischen Geschichte bis Anfang der 1990er Jahre ab.
Es
ist ein zutreffendes Klischee dass Istanbul an der Schnittstelle
zwischen
östlicher Tradition und
westlicher Moderne liegt. Auch das ist in dem Roman gut veranschaulicht.
westlicher Moderne liegt. Auch das ist in dem Roman gut veranschaulicht.
Nach
ihrem Tod lässt Leila fünf gute Freund*innen zurück, die auch alle
seltsame Spitznamen haben: „Hollywood Humeyra“, Jamila aus
Somalia, die kleinwüchsige Araberin „Zaynab122“, die u.a. als
Handleserin verdient. Außerdem sind da die Trans*frau „Nostalgie
Nalan“ und „Sabotage Sinan“, ein Jugendfreund
Leilas.
Zu
diesen fünf Freund*innen kommt noch der Trotzkist „D/Ali“,
der als große Liebe Leilas sie heiratet. Leider hält die Ehe den
Umständen nicht stand.
Leilas
Freund*innen machen sich schließlich in einer Nacht- und
Nebel-Aktion auf, um ihren Leichnam von einem Friedhof für die
Ausgestoßenen zu retten.
Dieser
Gesellschaftsrandroman von Shafak ist spannend und schön zugleich.
Schön sind so manche Sätze wie die Folgenden:
„Binnaz
hatte die ganze Zeit auf den Teppich geblickt, dabei jedoch ab und zu
verstohlen zu den Füßen des Imams hinübergespäht, dessen
lehmbraune Socken alt und so verschlissen waren, dass der große Zeh
bei jeder Bewegung die fadenscheinige Wolle zu durchstoßen drohte,
als wollte er fliehen.“
(Seite
31)
„Zwischen
den Frauen der Stadt gab es so viel Unausgesprochenes wie
Wäscheleinen zwischen den Häusern.“
(Seite
33)
„Von
der Spitze ihrer gewaltigen Nase aus verlief ein Netz geplatzter
Äderchen nach unten wie kleine Bäche, die sich über einen Berghang
wanden.“
(Seite
75)
„[…],
doch wie konnte sie Elvis abblitzen lassen, der eine rosarote Jacke
und eine gelbe Hose trug – Farben, die man in Van gerade an Männern
so selten sah, dass sie aufrührerisch wirkten wie die Fahne einer
Rebellenarmee!“
(Seite
149)
„Die
Mieter kamen und gingen, die neuen ersetzten die alten. Ganze
Stadtteile tauschten ihre Bewohner aus wie Schüler ihre
Fußballsammelkarten.“
(Seite
319)
Das
Buch lohnt sich für alle Istanbul-Liebhaber*innen genauso wie für
Freund*innen guter Unterhaltung.
Elif
Shafak: Unerhörte Stimmen, Zürich/Berlin 2019.
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