Buchkritik „Wir sind Gefangene“ von Oskar Maria Graf



Mit dem Buch „Wir sind Gefangene“ legte Oskar Maria Graf (1894-1967) 1927 seine Autobiografie vor, die sein Leben vom 11. bis zum 25. Lebensjahr, also von 1905 bis Ende 1919, schildert. Und es ist ein hartes Leben. Graf wächst als im Bäckermeistersohn in Berg am Starnberger See, also in Bayern auf.
Seine Kindheit ist eine wahre Höllenkindheit. Nach dem Tod seines Vaters wird der junge Oskar von seinem Bruder Max zu harter Arbeit in der Bäckerei gezwungen und von Max und den Gesellen immer wieder blutig geschlagen.
Diese Erfahrungen werden zeitlebens seine Einstellung zu Lohnarbeit und Kommandieren prägen.
Im Jahr 1911 gelingt ihm die Flucht nach München.
Hier versucht er sich als Schriftsteller durchzuschlagen und scheitert. Feste Lohnarbeit vermeidet er aus seinen Erfahrungen heraus. So schnorrt Graf sich durchs Leben und wird deswegen von Bekannten als „Pumpgenie“ bezeichnet. Um zu überleben lügt er – auch sich selbst gegenüber – und unterschlägt auch. Er ist ein ziemlicher Überlebenskünstler. Da er das auch gegenüber von Bekannten praktiziert, wirkt er auf die/den Leser*in nicht gerade sehr sympathisch.
Seine Ablehnung von Hierarchien und Arbeit führt ihn zu der anarchistischen „Gruppe Tat“ des „Sozialistischen Bundes“ in München. Hier trifft er u.a. Auf Erich Mühsam und wird Teil der Schwabinger Boheme. Die schildert er wie folgt: Maler, Kabarettistinnen, verkrachte Existenzen, begabte Zuhälter, Säufer, Kokainisten und Gelegenheitskokotten, Schieber und Studenten, kunstgewerbliche Mädchen und pazifistischen Dichter. Jeder schlug sich auf seine Art durchs Leben.“ (Seite 249)
Mit seinen Polit-Freunden besucht er auch die Lebensreform-Siedlung bei Locarno. Doch der vegetarischen Lebensweise beispielsweise kann er nicht sonderlich viel abgewinnen, vielmehr schimpft er auf diese „Verdauungsphilister“, „Grasfresser“, „Vollblutpflanzenfresser“ und „Verdauungsrevolutionäre“: Die Vollblutpflanzenfresser hatten auf Verita eine große Siedlung, genannt »Die Heidelbeere«. Dort wurde Nacktkultur verkündet, neues Menschentum und freie Liebe betrieben. An allen Bäumen klebten Propagandazettel in Versform, die zum Eintritt aufforderten, aber wehe, wer nach Seife roch, solche mitbrachte oder gar rauchte ...“ (Seite 109)
Dann bricht der Erste Weltkrieg aus, doch Graf ist der Hurrapatriotismus der Massen fremd. Er beschreibt die nationalistischen Exzesse kritisch und lehnt sie ab: Dort mengten sich Menschen zusammen, stürmten gegen ein Cafe, das einen fremdsprachigen Namen hatte, und schlugen alles kurz und klein. Auf einem Platz jagte eine Rotte einem Menschen brüllend nach, schlug ihn tot, sang »Deutschland, Deutschland über alles!«“ (Seite 132)
Aus dem Militärdienst befreit sich Graf durch eine Mischung aus Befehlsverweigerung und Irre-Sein. Seine Zeit bei der Armee schildert er realistisch und sehr unromatisch.
Zurück in München schlägt sich Graf wieder durchs Leben. Immer wieder begibt sich Graf aus Gründen der Not in eine Lohnarbeit und schuftet sich dabei kaputt: An keinem Abend aß ich was. Wie ein Sack fiel ich auf den Diwan, hockte da und versuchte mit aller erdenklicher Vorsicht die Stiefel von meinen geschwollenen Füßen herunterzuziehen. Knöpfte einen Knopf von der Weste auf und riß schließlich meine Kleider herunter, warf mich aufs Bett und schlief, schlief, schlief!“ (Seite 205)
Er heiratet, Selma, die er aber schlecht behandelt.
Graf ist Syndikalist und Revolutionär. Wobei ihm die Revolution als zukünftige Rettungsinsel aus der Gegenwart und ihren Beschwernissen erscheint. Genauere Vorstellungen hat er kaum.
Seine antibürgerliche Einstellung und ein gewisser Anti-Intellektualismus sorgen für einen Abstand zu der eher bürgerlichen Boheme: »Wissen sie, lieber als all diese Studenten und Studentinnen, die jeden Monat von daheim ihr Geld bekommen und hinten und vorn nichts, gar nichts vom Leben kennen, lieber ist mir doch der nächstbeste Lumpensammler!«“ (Seite 302)
Dann beginnt im November 1918 wirklich die lang erwartete Revolution. In München entsteht die Räterepublik. Graf beteiligt sich zeitweise, muss allerdings weiter versuchen zu überleben, denn die Novemberrevolution tastet die Eigentumsverhältnisse kaum an und Ideale füllen keinen Bauch.
So sind auch Antikommunisten, Gegenrevolutionäre und Antisemiten weiter in München aktiv: Die ersten antisemitischen Flugblätter tauchten auf. Meistens sah man sie in kleinen Milch- und Gemüseläden oder auch heimlich an die Wände geklebt. Moritatenähnliche Legenden über Eisners Herkunft und seinen vermeintlichen Reichtum verbreiteten sich.“ (Seite 397-98)
Auch die ganzen damals als Kohlrabi-Apostel bezeichneten Gurus tauchen auf und versuchen Anhänger*innen zu gewinnen: Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkultur-Anhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, Leute, die den Anbruch des tausendjährigen Reiches verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker, Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen.“ (Seite 424)
Die Räterepublik scheitert, nicht nur durch ihre militärischen Niederlagen, auch durch ihre Isolation, Unkoordiniertheit und innere Zwiste. Allenthalben herrscht ein revolutionäres Durcheinander.
Nach der Niederschlagung der Räterepublik kommt es überall in München zu Gräueltaten und Übergriffe durch weiße Truppen, die Graf eindrucksvoll schildert. Am Ende seines Buchs konstatiert er: Das sind alle meine Brüder, dachte ich zerknirscht, man hat sie zur Welt gebracht, großgeprügelt, hinausgeschmissen, sie sind zu einem Meister gekommen, das Prügeln ging weiter, als Gesellen hat man sie ausgenützt und schließlich sind sie Soldaten geworden und haben für die gekämpft, die sie prügelten.
Und jetzt?
Sie sind alle Hunde gewesen wie ich, haben ihr Leben lang kuschen und sich ducken müssen, und jetzt, weil sie beißen wollten, schlägt man sie tot.
Wir sind Gefangene!“ (Seite 458)

Dieser autografische Roman von Oskar Maria Graf ist ein sehr ehrlicher Rückblick. Er beschönigt nichts, sondern beschreibt sich als Säufer und Hochstapler, der seine schwangere Ehefrau vernachlässigt. Dadurch erinnert Graf ein wenig an den später erfolgreichen Schriftsteller Charles Bukowsky.
Das Buch ist spannend und schildert ein Stück Zeitgeschichte aus der persönlichen Perspektive.
Historisch interessierte Personen können bedenkenlos zugreifen.


Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, Berlin 6. Auflage 2017.

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