Buchkritik „Stadt der Diebe“ von David Benioff



Der Schriftsteller und Drehbuchautor David Benioff veröffentlichte 2008 den historischen Roman „Stadt der Diebe“, der Teile der Biografie seines Großvaters enthalten soll. Unklar bleibt, was Realität und was Fiktion ist.
Hauptprotagonist des Buches aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist Lew Abramowitsch Beniow (17). Dessen Vater war Jude und Dichter und wurde während der großen Säuberungen 1937 vom Geheimdienst NKWD abgeholt und aller Wahrscheinlichkeit ermordet.
Vier Jahre später steht Lews Heimatstadt Leningrad, die aber von den meisten Bewohner*innen in Erinnerung an den alten Namen St. Petersburg noch liebevoll ‚Piter‘ genannt wird, wird nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion belagert. Insgesamt wird es 900 Tage belagert.
Die nicht evakuierten Stadtbewohner*innen versuchen sich irgendwie durchzuschlagen. Auch Lew tut das.
Als Anfang 1942 eine erfrorener deutscher Fallschirmspringer vom Himmel fällt, missachtet er die Ausgangssperre und beschaut sich die Leiche und nimmt ihr ein Messer ab. Dadurch fällt er einer Patrouille in die Hände und wird als Plünderer verhaftet – im belagerten Leningrad stand darauf die Todesstrafe.
Im Gefängnis trifft er den charismatischen Kolja (20), der als angeblicher Deserteur verhaftet wurde.
Am nächsten Tag bietet ihnen ein NKWD-Oberst einen Deal an, um ihr Leben vor der Todesstrafe zu retten. Sie beschaffen in fünf Tagen für die Hochzeitstorte der Tochter zwölf Eier oder sie bekommen ihre Essensscheine nicht zurück und werden aller Wahrscheinlichkeit verhungern.
Ein Passierschein des NKWD-Oberst öffnet ihnen immerhin einige Straßenkontrollposten.
Die beiden Schicksalsgenossen Lew und Kolja begeben sich nun auf eine abenteuerliche Reise im belagerten Leningrad und darüber hinaus. Denn Eier sind in Leningrad seltener als Diamanten. Der Autor Benioff beschreibt sehr authentisch den Belagerungszustand der Stadt:
Vom Dach des Kirow konnten wir, wenn der Mond schien, ganz Leningrad sehen: die Turmspitze der Admiralität (grau angestrichen, damit Bomber sie nicht sahen), die Peter-Paul-Festung (die Kirchtürme mit Tarnnetzen verhängt), die Kuppeln der Isaak-Kathedrale und der Erlöserkirche auf dem Blut. Wir konnten die Besatzungen sehen, die die Flugzeugabwehrkanonen der benachbarten Gebäude bemannten.“ (Seite 36-37)
Der lebenserfahrenere Kolja versucht Lew gleichzeitig etwas über Frauen beizubringen; ein Punkt in dem Kolja sehr unbewandert ist.

Während ihrer Reise, die ein wenig an eine Queste erinnert, stoßen die beiden auf unterschiedliche Gefahren. Einmal entkommen sie einem Paar Kannibalen, was sie
Dauerhafte Gefahren und Begleiter sind die Kälte, der Hunger und die allgemeine Erschöpfung.
Dem Hunger begegnen die Leningrader*innen auf sehr unterschiedliche Weise. Die Not führt zu verzweifelten ‚Lösungen‘: Der Junge verkaufte sogenannte Bücherei-Lebkuchen, die hergestellt wurden, indem man den Einband von Büchern abriss. Den Leim vom Buchrücken abkratzte, ihn einkochte und daraus längliche Stücke formte, die in Papier eingewickelt wurden. Das Zeug schmeckte wie Wachs, aber der Leim enthielt Protein. Protein erhielt dich am Leben, und so verschwanden die Bücher genauso wie die Tauben.“ (Seite 157)
Die Jagd auf die zwölf Eier führt die beiden auch aus Leningrad heraus. Der Belagerungsring ist durchlässig genug.
Dabei stoßen sie zuerst auf einen Trupp Partisan*innen. Hier treffen Lew und Kolja auf die junge Scharfschützin Vika, in die sich Lew heftig verliebt.
Später fallen sie einer Gebirgsjäger-Einheit in die Hände, die sich durch das Land mordet.

Das Buch ist spannend und unterhaltsam geschrieben. Die Lektüre lohnt sich für Geschichtsinteressierte, genauso wie für Freund*innen guter Unterhaltungsliteratur.


David Benioff: Stadt der Diebe, Kösel/Krugzell 2011.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Reportageband „Frauen dieser Welt“ von Peter Menzel und Faith d'Aluisio

Buchkritik „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel

Buchkritik „Hinterwald“ von Lissbeth Lutter